Dr. Peter Niehenke:
Spieglein, Spieglein an der Wand...
Über den Unterschied von Wissen und Weisheit in der Astrologie
Vortrag anläßlich des Astrologie-Weltkongresses in Luzern am 19. Mai 1996
Ab und zu gehe ich mit einem kleinen Jungen spazieren.
Es ist ein phantasiebegabtes kleines Kerlchen und wir
lachen viel miteinander. Wenn das Wetter es erlaubt,
macht es ihm großen Spaß, in den Wolkenformen
alle möglichen Gestalten zu erkennen. Es ist ein
faszinierendes Spiel für mich (vielleicht, weil
ich Psychologe bin), und ich spiele es gern mit ihm.
Eines Tages zeigte ich ihm eine Wolke und fragte: "Schau,
die Wolke dort, sieht das nicht aus wie ein Delphin
auf einem Motorrad?" Während er zu der Wolke
schaute, betrachtete ich ihn mir (ich betrachte ihn
gern, wenn er sich unbeobachtet fühlt) - und sein
Gesichtsausdruck erinnerte mich in dem Moment an eine
Klientin, die vormittags zu einer astrologischen Beratung
in meiner Praxis gewesen war: Als ich der Klientin
eine bestimmte Konstellation ihres Horoskops erläutert
hatte, mit der sie auf Anhieb nicht so viel anfangen
konnte, da hatte sie auch diesen Gesichtsausdruck,
während sie meine Deutung nachzuvollziehen versuchte.
Während Sebastian in meiner Wolke eher ein stromlinienförmiges
Kamel im Galopp zu erkennen meinte, hatte ich meine
Klientin, die Autorität des Kosmos im Rücken,
mit meiner Sicht ihrer Seele offensichtlich mehr beeindrucken
können: Sie war sehr nachdenklich geworden.
Ich wurde damals auf diesem Spaziergang sehr nachdenklich
...
Die Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucks, die ich
bei Sebastian und meiner Klientin zu erkennen meinte,
brachte mich auf einen Gedanken.
Seit mehr als 10 Jahren beschäftigt mich die Frage,
wie es zusammenpaßt, daß wir Astrologen
in der Beratung unsere Klienten immer wieder so beeindrucken
können, daß ich selbst immer wieder dieses
intensive Gefühl von "Stimmigkeit" bei
der Deutung von Horoskopen habe (ich nenne es Evidenzgefühl),
daß aber jeder Versuch, diese Stimmigkeit in
wissenschaftlichen Untersuchungen zu objektivieren,
bisher gescheitert ist. Ich selbst bin schließlich
vor 10 Jahren, als ich meine Dissertation abschloß,
bei diesem Versuch "grandios gescheitert".
Sie verzeihn das Wort "grandios", aber immerhin
habe ich damals 12.000 16-seitige Fragebögen mit
jeweils über 500 Fragen versandt, und meine Studie
war vom Umfang her (übrigens auch von der im Rechenzentrum
benötigten Rechenzeit her) die größte
Studie, die jemals am Psychologischen Institut der
Universität Freiburg durchgeführt worden
war. - Und es ist mir nicht gelungen zu zeigen, daß
widder- oder stierbetonte Menschen sich auch selbst
so empfinden, wie es der Bedeutung der Tierkreiszeichen
entspricht - zumindest haben sie in dem Fragebogen
nicht so geantwortet.
Kollegen hatten damals für dieses Scheitern schnelle
Erklärungen parat, so wie sie auch heute für
das Scheitern immer wieder neuer Studien immer wieder
solche Erklärungen parat haben: Wissenschaftliche
Methoden, speziell statistische Methoden, seien eben
ungeeignet, den Wahrheitsgehalt der Astrologie zu prüfen.
Diese Kollegen scheinen nicht zu merken, in welche
Widersprüche sie sich damit verstricken, denn
im nächsten Einführungsseminar zur Astrologie
behaupten sie wahrscheinlich, wasserzeichen-betonte
Menschen seien emotionaler als luftzeichen-betonte
Menschen. Sie merken offensichtlich nicht, daß
sie damit eine Aussage über Häufigkeiten
machen, daß sie nämlich behaupten, daß
unter den wasserzeichen-betonten Menschen Gefühlsbetontheit
häufiger vorkomme als unter den luftzeichen-betonten
Menschen. Und das ist eine statistische Aussage! Und
diese Aussage ist entweder wahr oder nicht: Wenn ich
mich mit solchen Aussagen auf das Feld der Statistik
begebe, dann muß ich mich auch mit ihrem Maß
messen lassen! Es mag ja sein, daß die wissenschaftlichen
und speziell statistischen Methoden nicht angemessen
sind, um die Astrologie zu überprüfen: Sie
sind allerdings durchaus angemessen, um die Behauptungen
von Astrologen, so wie sie in Lehrbüchern und
in Astrologie-Kursen verbreitet werden, zu überprüfen.
Es hilft uns wenig, wenn wir diese Probleme wegdiskutieren,
einfach vom Tisch wischen, ihre Existenz leugnen. Wir
versuchen, uns mit Ausreden aus unseren Problemen herauszuwinden,
beschönigen unser Scheitern, finden im Nachhinein
tausend Erklärungen dafür - statt etwas über
unsere Astrologie zu lernen, indem wir uns ihnen stellen.
Ich kann gut verstehen, wenn manche unserer Kolleginnen
und Kollegen sich für diese Fragen nicht interessieren:
Man kann ein guter Astrologe sein, ohne etwas von wissenschaftlichen
Methoden und von Statistik zu verstehen. - Nur sollte
man sich dann zu solchen Fragen auch nicht äußern!
Wir Astrologen beklagen immer wieder, daß Wissenschaftler
sich zur Astrologie äußern, ohne etwas davon
zu verstehen. Wir nennen es zu Recht einen Skandal,
wenn Wissenschaftler sich ein Urteil über die
Astrologie erlauben, ohne Kenntnis der Details zu haben,
wenn ihre Kenntnis der Astrologie sich auf Halbwissen
und Vorurteil gründet. Weniger kritisch sind wir,
wenn Astrologen sich zu wissenschaftlichen Methoden
und deren Angemessenheit oder Unangemessenheit äußern,
ohne etwas davon zu verstehen, wenn ihre Kenntnis der
wissenschaftlichen und speziell statistischen Methoden
mehr auf Vorurteilen und Halbwissen basiert als auf
fundierter Sachkenntnis. Aber eigentlich ist auch dies
ein Skandal.
Zurück zu dem Gedanken, auf den mich das Wolken-Erkennungs-Spiel
brachte: Um diesen Gedanken verständlich zu machen,
ohne mich in dieser frühen Morgenstunde in allzu
abstrakte (und für Sie vermutlich langweilige)
wissenschaftliche Argumentation zu verlieren, soll
ein Gleichnis mir helfen (von Gleichnissen verstehen
wir Astrologen schließlich etwas, sozusagen von
Berufs wegen).
Die Art, wie wir Astrologen mit der Astrologie umgehen,
erinnert mich immer wieder an das Märchen von
Schneewittchen. - Sie erinnern sich? Schneewittchen
ist eine schöne Prinzessin. Ihre Stiefmutter,
die Königin, selbst eine schöne Frau, hat
Angst, ihre Stieftochter Schneewittchen könnte
eines Tages schöner sein als sie selbst. Sie besitzt
einen Zauberspiegel, der immer die Wahrheit sagt. Soweit
man aus der Geschichte entnehmen kann, nutzt die Königin
diesen fantastischen Spiegel aber nur zur immer wieder
neuen Bestätigung ihrer eigenen Schönheit:
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die
Schönste im ganzen Land?" fragt sie.
Was könnte man einem solchen Spiegel alles für
interessante Fragen stellen? Ich habe diese einseitige
Verwendung des Spiegels schon als Kind für eine
Art von Verschwendung oder Mißbrauch gehalten.
Es kam mir ähnlich unverständlich vor, wie
wenn man das Telefon ausschließlich dazu benutzen
würde, um über die Nummer 119 immer die genaue
Zeit zu erfahren. Doch es kamen mir auch damals schon
Zweifel an meinem eigenen Unverständnis: Wenn
nun die Frage, ob sie die Schönste im ganzen Land
sei, für die Königin nun einmal die wichtigste
Frage in ihrem Leben war, war es nicht sehr verständlich,
den Spiegel primär oder vielleicht sogar ausschließlich
zur Beantwortung dieser Frage zu benutzen? Ich entschied
mich, daß man ihr eigentlich keinen Vorwurf machen
könne.
Nein, einen Vorwurf kann man Menschen nicht dafür
machen, daß sie sich darüber täuschen,
wonach sie sich in ihrem Innersten wirklich sehnen,
daß sie der Erfüllung von der Mode oder dem
Zeitgeist diktierter Bedürfnisse nachjagen,
daß sie Freude mit Vergnügen verwechseln,
Glück mit Wohlergehen,
die Sehnsucht nach Souveränität und Autonomie
mit der Gier nach Macht
oder umgekehrt, die Sehnsucht nach Transzendenz der
eigenen Ich-Grenzen mit Willenlosigkeit oder Masochismus,
die Sehnsucht schließlich nach dem Eigebettet-Sein
in eine kosmische Ordnung mit einem transzendenten
Determinismus (genannt: "Das Gesetz von Ursache
und Wirkung"), der das starre mechanistische Weltbild
des 19. Jhd.s, noch dazu in derselben Sprache, auch
auf das Jenseits ausweitet.
Es ist ihnen auch kein Vorwurf daraus zu machen, daß
sie ihren Verstand, dieses Wunder der Natur, dazu benutzen,
um Maschinen zu erfinden, mit denen sie sich gegenseitig
umbringen.
Doch wenn man sich das alles einmal mit einem Schritt
Abstand ansieht, dann stockt einem der Atem.
Zurück zu Schneewittchen und ihrer Stiefmutter.
Sie wissen, wie das Märchen ausgeht: Die Versuche
der Königin, Schneewittchen aus dem Wege zu räumen,
scheitern. Das muß einfach so sein, auch wenn
es unrealistisch ist: Märchen sind ohnehin schon
eine harte Kost. Ein Happy-End ist das Mindeste, damit
die Kinder nach dem Märchen auch schlafen können
...
Uns soll an diesem Märchen hauptsächlich der
Spiegel interessieren: Im Märchen wird behauptet,
er sage immer die Wahrheit. Schauen wir uns einmal
an, welche Art von Wahrheit er denn verkündet.
Er behauptet, daß ein bestimmtes menschliches
Wesen schöner sei als ein anderes menschliches
Wesen. Objektiv schöner. Und zwar tausend mal.
Er begnügt sich nicht damit zu behaupten, daß
der König oder der Prinz oder das Volk die Prinzessin
schöner fände, er erschrickt die Königin
mit der Feststellung, daß die Prinzessin schöner
sei.
"Meine Güte", höre ich Aufschreie
des Entsetzens, "wenn man so mit Märchen
umgeht - das ist die falsche Ebene!"
Ja, ja, das ist eben die falsche Ebene. Und bei den
Märchen ist es uns auch klar, daß wir ihre
Botschaft nicht als "Quelle verläßlicher
Informationen" mißverstehen dürfen,
es ist uns klar, daß die Bilder, in denen sie
zu uns sprechen, Analogien sind.
In der Astrologie scheint dieses Wissen uns, trotz gegenteiliger
Beteuerungen, aber verloren gegangen zu sein. Immer
wieder erfinden die Kreativen unter unseren Kollegen
neue Methoden und scharen Anhänger um sich. Begründet
wird das damit, daß die "alten Methoden"
sich als wenig erfolgreich herausgestellt hätten,
nicht funktionieren würden, überholt seien.
Den Wissenschaftlern gegenüber behaupten wir,
man könne auf rationale Weise Astrologie nicht
widerlegen. Innerhalb der Astrologie scheint es, im
Gegensatz dazu, möglich zu sein: Wenn behauptet
wird, daß die "alten Methoden" nicht
funktionieren, dann handelt es sich doch wohl um eine
rationale Widerlegung einer bestimmten astrologischen
Arbeitsweise (rational deshalb, weil damit argumentiert
wird, daß die alten Methoden nicht funktionieren).
Und im Gegensatz zu allen Beteurungen den Wissenschaftlern
gegenüber, wird damit gleichzeitig behauptet,
daß die Methoden eigentlich funktionieren müßten!
- Dies ist ein typisches Beispiel für die in der
Astrologie so zahlreichen Widersprüche.
Kann ein Märchen "falsch sein"? Kann
eine Analogie, ein Gleichnis nicht funktionieren? Welche
Art von "Wahrheit" ist die astrologische
Warheit? Welche Art von Spiegel ist das Horo-skop?
Die Klientin war zu mir gekommen, um in einen besonderen
Spiegel zu schauen, das Horo-skop (von hora: die Stunde,
und skopein: schauen). Das Horoskop sagt ja auch immer
die Wahrheit, oder? Geht es nach manchen unserer Kolleginnen
und Kollegen, dann sagt die Stunde der Geburt in jedem
Fall die Wahrheit, sei die Geburt medikamentös
eingeleitet, sei der Termin für einen Kaiserschnitt
vom operierenden Arzt willkürlich auf 11.30 Uhr
vormittags festgelegt, sei ein Unfall Ursache einer
Frühgeburt. Das Kind sucht sich nach Meinung dieser
Kolleginnen und Kollegen in seiner vorgeburtlichen
Existenz den Zeitpunkt der Geburt aus - und, anders
als sonst im Leben, kann bei dieser Wahl nichts schiefgehen,
Fehler sind ausgeschlossen, Willkür, Dazwischenfunken
höherer Mächte oder des sog. Zufalls, Pannen
oder Störungen jeglicher Art kommen in dieser
jenseitigen Welt nicht vor.
Wie können wir uns der "Wahrheit" des
Horoskops nähern. Ich möchte es auf zwei
Weisen tun, so wie Sebastian und ich in derselben Wolke
zwei verschiedene Gestalten "gesehen" haben.
Zunächst möchte ich einen kleinen Ausflug
machen und uns sensibilisieren für den Unterschied
zweier Erkenntnisformen: Dem "Wissen" und
der "Weisheit".
Der Begriff Weisheit ist mit vielen Klischees verbunden.
Aus dem Munde mancher Menschen riecht er leicht abgestanden,
atmet etwas vom Pathos moralischer Untadeligkeit und
Achtung vor dem Alter. Nicht, daß ich etwas dagegen
hätte, Menschen zu achten, schon gar nicht etwas
dagegen, alte Menschen zu achten. Ich bevorzuge es
jedoch, daß wir alle Menschen gleichermaßen
achten ...
Gibt es eine Möglichkeit, den Begriff der Weisheit
vom Ballast pathetischer Assoziationen zu befreien,
das, was er im Kern meint, jedoch zu bewahren? Ich
möchte zeigen, daß dies möglich ist,
und daß ein so verstandener Begriff von Weisheit
für die Astrologie eine besondere Bedeutung hat.
Die Assoziation von Weisheit mit Alter scheint, soweit
ich das übersehe, interkulturell zu gelten, Weisheit
gilt als seltenes, und daher besonders wertvolles Attribut
kultivierter alter Menschen. Worin liegt die Berechtigung
dieser Assoziation? Was könnte es alten Menschen
leichter machen als jüngeren, weise zu sein?
Alte Menschen haben zunächst einmal mehr erlebt
als jüngere, sind, sofern sie ihr Leben bewußt
gelebt haben, erfahrener. Doch Erfahrung allein läßt
sich ebensogut zum sog. "alten Fuchs" assoziieren
wie zum alten weisen Mann oder der alten weisen Frau.
Der "alte Fuchs" ist schlau geworden in seinem
Lebem, er kennt viele Tricks, er ist ein Überlebens-Künstler
geworden; er vergeudet seine Kraft nicht mehr in unsinnigen
Projekten wie das Greenhorn, das seine Ungeduld nicht
zähmen kann. Doch wird würden ihn wohl wegen
dieser Fähigkeit nicht weise nennen. Zur Weisheit
fehlt etwas.
Mir scheint ein wensentlicher Unterschied darin zu liegen,
daß der Weise andere Ziele verfolgt als der "alte
Fuchs". Er hat, als alter Mensch, einen großen
Teil seines Lebens gelebt, hat die "persönlichen
Ziele" weitgehend oder teilweise erreicht oder
aber seinen Frieden damit machen können, daß
sie für ihn nicht erreichbar waren. Im Gegensatz
zum schlauen alten Fuchs, der zwar gelernt hat, seine
Ziele effektiver zu erreichen und vielen Gefahren aus
dem Wege zu gehen, der aber weiterhin nur an seinem
eigenen unmittelbaren Wohl interessiert ist, gehen
die Bedürfnisse des Weisen über sein eigenes
unmittelbares Wohl hinaus. Der Weise denkt "umfassender":
Normalerweise sind wir beschäftigt mit den Sorgen
um unsere eigene Existenz und die Existenz unserer
Kinder. Der Weise sorgt sich um die Welt als Ganzer.
Die psychologisch interessante Frage ist, was ihn denn
dazu führt. Ist es das Bedürfnis, sich, wo
er langsam dem Tode näher kommt, einen "Fensterplatz
im Himmel" zu sichern? Oder sucht er nach neuen
Einsatzfeldern für seine Energie, nachdem die
persönlichen Bedürfnisse erfüllt sind?
Will er genießen, für andere wichtig zu
sein und von ihnen respektiert oder gar geliebt zu
werden in seiner Selbstlosigkeit?
Das alles mag sicher im konkreten Fall eine wichtige
Rolle mitspielen. Das Entscheidende scheint mir jedoch
etwas anderes: Von der Begierde nach Erfüllung
bestimmter selbstbezogener Bedürfnisse und drängender
Triebe ein wenig freier als der junge Mensch gelingt
es ihm mehr, Zusammenhänge zu sehen. Er sieht,
oder fühlt doch zumindest (so würde ich sagen),
sein Eingebettet-Sein in ein umfassenderes Ganzes,
sei es die menschliche Gemeinschaft oder, darüber
hinausgehend, die Natur, oder, noch weitergehend, der
Kosmos als Ganzer. Er denkt und handelt ganzheitlicher,
holistisch, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen.
Weisheit ist also, so, meine ich, sei sie am besten
zu charakterisieren, ganzheitliche Erkenntnis.
Dieser Begriff eignet sich gut, als Schlagwort mißbraucht
zu werden, als Rechtfertigung für Ungenauigkeiten
im Denken und für mangelnde Überzeugungskraft
der eigenen Argumente, wie dies in der esoterischen
Szene so häufig der Fall ist. Ich möchte
den Begriff deshalb näher präzisieren, um
dem Mißbrauch vorzubeugen:
Auf der Ebene der Emotionen gibt es eine sehr gute Entsprechung
zu den zwei unterschiedlichen Formen der Erkenntnis,
der ganzheitlich-intuitiven und der rationalen. Die
ganzheitliche Erkenntnis verhält sich zur rationalen
Erkenntnis wie die Liebe zur Begierde (die so häufig
miteinander verwechselt werden): Rationale Erkentnis
strebt "Wissen" an, und mit dem Wort "Wissen"
ist z. B. Sicherheit assoziiert (Gewißheit).
Die Sicherheit, daß etwas so und nicht anders
zusammenhängt und/oder funktioniert, erlaubt es
uns, über die Natur zu verfügen. Der Kern
des Wissen-Wollens liegt im Verfügen-Wollen, im
Benutzen-Wollen. Im Bereich der Emotionen entspricht
dies der Begierde. Die Begierde ist auf Erfüllung
meiner Bedürfnisse gerichtet, begehren bedeutet
haben, benutzen wollen. Das Objekt meiner Begierde,
z. B. der begehrte Mensch, mag sich zwar aufgewertet
fühlen durch mein begehren (es ist lustvoll, begehrenswert
zu sein!), doch in der Begierde denke ich an mein Wohl
und nicht an das Wohl meines "Objekts".
Die ganzheitliche Erkenntnis strebt statt des Wissens
Weisheit an. Der Weise kann manches ahnen, von dem
er weiß, daß er es nicht wissen kann. Er
hat Zugang zu seiner "inneren Stimme". Weisheit
ist umfassender, meist aber auch weniger "nützlich"
in einem pragmatischen Sinn. Auf der emotionalen Ebene
entspricht der Weisheit die Liebe. In der Liebe steht
das Wohl meines geliebten "Objektes" (etwa
des geliebten Menschen) im Vordergrund. Im Idealfall
will ich den geliebten Menschen nicht "besitzen",
sondern ich will ihn "glücklich sehen".
Das hört sich selbstlos an und riecht nach Verzicht
- doch das ist ein Mißverständnis.
Liebe ist als Emotion nicht selbstloser als die Begierde.
Sie ist einfach "umfassender", weniger "eng",
hat als Ziel nicht "Sättigung eines Bedürfnisses"
sondern "Glücklichsein". Liebe strebt,
wie Weisheit, das "Im-Einklang-Sein" an.
Der Zugang des Weisen zur Erkenntnis ist weniger ein
"Verfügen-Wollen" als ein "Im-Einklang-Sein-Wollen".
Für ihn ist der Gegensatz zwischen Egoismus und
Altruismus ein Scheingegensatz, der nur für Menschen
besteht, die nicht spüren können, wie alles
mit allem zusammenhängt und verwoben ist. Ist
z. B. derjenige, der um des persönliches Profits
willen einen Teil der Umwelt zerstört, ein Egoist
oder nicht eher ein Dummkopf (ein gefährlicher
zwar)? Ist er doch angewiesen darauf, dieselbe Luft
zu atmen und dasselbe Wasser zu trinken. Und es wäre
merkwürdig, wenn es, parallel zu psychosomatischen
Erkrankungen eines Menschen, nicht auch psychosomatische
Erkrankungen der Menschheit gäbe. In anderen Worten:
Neben der mittlerweile allzu augenfälligen Gefahr
chemischer und physikalischer Umweltverschmutzungen
gibt es ebenso seelische, geistige und soziale. Und
diese, oft von den sog. Mächtigen dieser Welt
verursachten, Umweltverschmutzungen wirken auf diese
Menschen ebenso zurück wie die chemischen oder
biochemischen Umweltverschmutzungen auch die Wirtschaftsbosse
treffen, die sie zu verantworten haben.
Wie gehen nun wir Astrologen mit Erkenntnis um? Streben
wir Verfügungswissen oder Weisheit an?
Wir schimpfen auf die Einseitigkeit der modernen Wissenschaften
und ihrer Vertreter, der Wissenschaftler, gehen aber
unsererseits mit der Astrologie in gleicher Weise um,
stellen dieselbe Art von Fragen und erwarten dieselbe
Art von Antworten. Astrologie ist für uns einfach
ein weiteres Instrument, um uns die Erde untertan zu
machen. Wir versuchen, mit Hilfe der Astrologie pragmatisch
relevantes Wissen zu erlangen, Verfügungswissen.
Die Wirtschaftsastrologen wollen z. B. "günstige
Zeitpunkte" für Investitionen ermitteln.
Mit "günstig" meinen Sie dabei nicht
etwa das, was für die entsprechende Region oder
die beteiligten Menschen günstig ist, sondern
gemeint ist der Profit des Fragenden, der sie bezahlt.
Ich bin überzeugt, daß wir die "Pattsituation"
zwischen Gegnern und Befürwortern der Astrologie
solange nicht werden beenden können, solange wir
nicht verstehen, daß das Horoskop Ausdruck der
"Harmonie des Ganzen" ist und daher auch
nur im Hinblick auf dieses Ganze angemessen interpretiert
werden kann. Astrologie bietet dem Suchenden nicht
so sehr Wissen als vielmehr Weisheit; aus dem Horoskop
lassen sich Empfehlungen für das "richtige"
(im Sinne von: das "gute", ein "glückliches")
Leben ableiten, nicht aber Ratschläge für
den besten Zeitpunkt für Investitionen, wenn unter
dem "besten Zeitpunkt" derjenige verstanden
wird, der für den Fragenden den meisten Profit
abwirft.
Wir Menschen sind, daß wird uns mit wachsendem
Umweltbewußtsein immer deutlicher, wie die Zellen
unseres Organismus in einem interdependenten System,
wo das Wohl des einen vom Wohl des anderen nicht klar
zu trennen ist. Das Horoskop sagt m. E. etwas über
meinen "Ort" im Kosmos, über mich als
Teil des Ganzen. "Gut" kann in dieser Hinsicht
nur bedeuten, im Hinblick auf dieses Ganze an der richtigen
Stelle zu stehen und entsprechend zu handeln. Meine
persönliche Gesundheit und die "Gesundheit"
des Ganzen sind nicht nur chemisch und im engeren Sinne
biologisch aufs engste miteinander verknüpft.
Darum weiß oder dies ahnt der Weise, und, was
noch wichtiger ist: das macht den Unterschied in seinem
Handeln aus. Viele von uns, und dabei denke ich auch
an mich, wären für ihr Alter schon recht
weise, wenn es nur um die Einsicht ginge ...
Unsere Astrologie ist aber noch gar nicht wirklich dieser
Funktion entsprechend formuliert. Im Gegenteil: Den
typischen Fragen der die Astrologie benutzenden Menschen,
der die Astrologen konsultierenden Klienten gemäß,
sind die Bedeutungen der astrologischen Symbole individualistisch
formuliert, stellen, im Gegensatz etwa zu den Deutungen
des I Ging, nicht den Bezug zum Ganzen her. Im besten
Fall sind sie als psychologische Merkmale einer Person
formuliert. Und das, was wir Astrologen unseren Klienten
versprechen, bezieht sich auf ihr individuelles Bedürfnis,
gesund zu sein, glücklich zu sein, Erfolg zu haben,
selbstverwirklicht zu sein usw.
Astrologie ist der Ausdruck der Verwobenheit des Einzelnen
in das Ganze unseres Sonnensystems oder des Kosmos.
Und wenn das wahr ist, dann machen astrologische Deutungen
auch nur in diesem Kontext Sinn.
Und nun lassen Sie uns dieselbe Wolke noch auf eine
andere Art anschauen, dasselbe Thema noch von einer
anderen Seite beleuchten. Unsere Frage ist immer noch:
In welcher Weise und über welchen Aspekt der Realität
sagt das Horoskop etwas aus?
Wenn wir von "Erfahrung" sprechen, wenn wir
Regeln formulieren wie in den Lehrbüchern, dann
machen wir implizit, auch wenn es anders formuliert
ist, eine Aussage über Häufigkeiten, wie
ich das zu Beginn, so hoffe ich: überzeugend,
gezeigt habe.
Wenn wir Astrologen "Erfahrungssätze"
aussprechen, dann tun wir das meist in der Form: "Diese
oder jene Konstellation hat mit diesem oder jenem Merkmal
zu tun." Wenn Astrologie überprüft wird,
dann wird meist geprüft, ob solche Erfahrungssätze
stimmen, ob die entsprechende Konstellation auch, wie
behauptet, in einer Gruppe von Menschen mit dem dazugehörenden
Merkmal wirklich häufiger auftritt. Eine andere,
häufig benutzte Weise, Astrologie zu überprüfen,
besteht darin, nachzuprüfen, ob die Deutung eines
ganzen Horoskops durch einen (oder mehrere) erfahrene
Astrologen als Ganze stimmt Das kann durch das Urteil
des Betreffenden geprüft werden (er stimmt der
Deutung entweder zu oder nicht) oder durch den Vergleich
der Deutung mit psychologischen Tests oder der Meinung
von Freunden, Verwandten usw. und schließlich
kann es durch den Vergleich der Deutung mit der Biografie
des Horoskopeigners geprüft werden.
Und wie wir solche Untersuchungen auch anlegen: sie
scheitern (fast) immer.
Was ist an der Beratungssituation, in der wir, im Gegensatz
dazu, meist erfolgreich sind, eigentlich anders? Wie
ist es erklärbar, daß wir dort nicht scheitern?
Meine These ist: Unsere Interpretation des Horoskops
ist eine Art "Gleichnis", seine Wirkung beruht
auf Analogieschlüssen. In dem Bereich unserer
Kultur, den wir "Kunst" nennen, sind Gleichnisse
eine zentrale Dimension: Wenn der kleine vorpubertäre
Mozart bereits eine Oper komponiert und während
der Arbeit seinen Vater fragt, was denn Leidenschaft
sei, weil er ohne dieses Wissen die entsprechende Passage
des Librettos nicht angemessen vertonen kann, dann
wird deutlich, daß die Musik "analog"
zu den Gefühlen sein soll. Wenn Kabarettisten
in totalitären Staaten mit Zensur die Kritik an
den Mächtigen so geschickt verpacken, daß
der Zensor sie nicht bemerkt, das intelligente Publikum
aber sehr wohl, dann werden gesellschaftliche Zustände
gleichnishaft in einem Sketch dargestellt und können,
symbolisch, gebrandmarkt werden. Gleichnisse haben
eine ungeheure Macht und sind weit davon entfernt,
ohne realen Bezug zu sein. Doch welcher Instrumente
bedürfte es, die Angemessenheit eines Gleichnisses
zu untersuchen?
In der Beratungssituation, behaupte ich, geschieht
etwas Vergleichbares: Ich entwerfe ein Bild, das dem
Wesen meines Klienten "ähnlich" ist.
Wenn jemand, der mit mir zusammen das Wolken-Erkennungs-Spiel
spielt, auch die Gestalt sieht, die ich in der Wolke
sehe, dann erkennt er eine Ähnlichkeit.
Wenn meine These richtig ist, daß das interpretierte
Horoskop ein "Gleichnis" ist, dann wird verständlich,
warum Klienten sich davon tief betroffen fühlen
können, die Überprüfung der "Richtigkeit"
solcher Interpretationen aber immer wieder ausgehen
wie das Hornberger Schießen. Dann wird auch die
Frage berechtigt, ob Statistik ein geeignetes Mittel
ist, um "Ähnlichkeiten" aufzuspüren.
Wenn ich in einer Wolkenformation Ähnlichkeiten
mit einer Tiergestalt erkenne, dann gibt es keine Möglichkeit,
zu beweisen, daß diese Ähnlichkeit auch
wirklich besteht. Ein "Beweis" ist nur bei
"Gleichheit" möglich, der Beweis verlangt
"Eindeutigkeit". Die ist aber bei der "Ähnlichkeit"
gerade nicht gegeben. Ich könnte zwar sehr wohl
(wenn auch erst seit einigen Jahren!!) durch ein Foto
der Wolke, aufgenommen aus meiner Perspektive, und
ein entsprechendes Computerprogramm eine Art Koeffizienten
für die Ähnlichkeit der Wokenform mit einer
bestimmten Tiergestalt errechnen - aber die Festlegung,
ab welchem Wert dieser Koeffizient als "Beweis"
angesehen werden kann, ist Geschmacksache.
Ich kann einen anderen, der mit mir die Wolken betrachtet,
nicht "zwingen", die Ähnlichkeit anzuerkennen,
wie ich das bei einem Beweis könnte. Der Mitmensch
neben mir muß "bereit sein, sich auf meine
Sichtweise einzulassen", wenn er die Ähnlichkeit
erkennen will. Er muß also gerade ein Stück
weit "unkritisch" sein, wenn er sehen will,
was ich sehe. Dennoch ist diese Ähnlichkeit nicht
einfach "Einbildung", wie das Beispiel des
berechenbaren Koeffizienten ja deutlich macht.
Der Klient in der Beratungssituation ist nun jemand,
der sich bemüht zu erkennen, was ich ihm zeigen
will. Er hat schließlich genug Geld dafür
bezahlt. Der eine Astrologe sieht in seinem Wesen einen
Delphin auf einem Motorrad. Und wenn sich der Klient
ein wenig bemüht, dann kann er das auch sehen.
Ein anderer Astrologe sieht in seinem Wesen eine stromlinienförmiges
Kamel im Galopp - und wenn sich der Klient bemüht,
dann kann er auch das erkennen.
Ähnlichkeit läßt sich in viele Bilder
fassen, nur sehr wenige sind wirklich total falsch.
Für kritische Spötter, die das Spiel nicht
verstehen, gibt es viel zu lachen: Was könnte
unterschiedlicher sein als ein Delphin und ein Kamel.
"Nichteinmal zwischen Tieren mit Beinen und Fischen
können diese dummen Astrologen unterscheiden ..."
Eine Wolke kann einem Tier gleichen: Aber nur von der
Form her!
Ein Horoskop gleicht, wenn wir Astrologen recht haben,
dem Wesen eines Menschen: aber bezüglich welcher
Dimension? Das Wesen eines Menschen ist nicht visuell
wahrnehmbar. Was bedeutet "Ähnlichkeit",
wenn wir von Wesenszügen sprechen?
Wir betreten hier, ohne daß die Grenze deutlich
spürbar wäre, ein Gebiet, über das wir
sehr wenig wissen: Wie Menschen (Organismen überhaupt)
Ähnlichkeiten wahrnehmen (Ähnlichkeiten der
Form, Ähnlichkeiten in der Musik, Ähnlichkeiten
im Charakter von Menschen -etwa verschiedener Nationalitäten-
oder so komplexe Dimensionen wie die Ähnlichkeit
unterschiedlicher Kulturen), wie solche Ähnlichkeiten
wahrgenommen werden (bzw. wann sich der Eindruck von
Ähnlichkeit einstellt) ist unerforscht, wissenschaftliches
Neuland. Es dürfte schwierig sein, wissenschaftlich
überhaupt zu bestimmen, was unter "ähnlich"
präzise verstanden werden soll (spüren Sie
die Paradoxie in der Notwendigkeit, Ähnlichkeit
präzise zu definieren?)
Es wird sehr oft von einem Paradigmenwechsel gesprochen,
der notwendig ist, wenn Astrologie und, neben ihr,
viele andere komplexe Gebiete, angemessen wissenschaftlich
sollen untersucht werden können: für diesen
Paradigmenwechsel wird, so ahne ich, der Verlust eines
Eckpfeilers des heutigen Verständnisses von Wissenschaft
(von "Wissen" überhaupt) charakteristisch
sein, der Eindeutigkeit.
Wissenschaft, wie wir sie heute verstehen, verdankt
ihre Erfolge ihrem Bemühen um Präzision (insbesondere
Präzision in ihren Begriffen). Sie hat mit diesen
präzisen Begriffen ein Netz geschaffen, mit dem
sie große Fische aus dem Meer möglicher
Erkenntnis fischen konnte. In ihrem fortwährenden
Bemühen wurde dieses Netz immer feiner geknüpft,
und immer mehr Arten von Fischen gingen in das Netz.
Aber wie sehr sich die Wissenschaftler auch bemühen:
Mit dem Netzwerk aus präzisen Begriffen läßt
sich das "Unbestimmte" nicht fangen, so wie
Stoffe, die in Wasser gelöst sind, mit dem feinsten
Netz nicht zu fischen wären.
Aber welchen Wert könnte "das Unbestimmte"
auch haben? Man kann damit mit Sicherheit keine Autos
bauen, man wird nicht zum Mond fliegen können.
Ich frage mich, ob Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
bereit sind, Ihren Anspruch so weit zurückzunehmen,
sich zu bescheiden damit, daß die Interpretation
des Horoskops "nur" ein Gleichnis darstellt,
einzugestehen, daß all die Versuche in den letzten
Jahrhunderten und Jahrtausenden (bis hin zur Bibliothek
des babylonischen Königs Ashurbanipal), den Lauf
der Gestirne mit "Fakten" zu korrelieren
(Zuordnung von Krankheiten zu Konstellationen, von
Lebensdaten zu Solaren, Direktionen, Septaren oder
Alterspunkten, von Berufen, sexuellen Präferenzen
oder Charaktermerkmalen zu Konstellationen des Geburtshoroskops),
daß all diese Versuche an der Sache vorbeigingen.
Wahrscheinlich brauchen wir ganz neue Methoden, wenn
wir Astrologie prüfen wollen: Methoden, von denen
in den Geisteswissenschaften schon eine ganze Reihe
entwickelt wurden und uns zur Verfügung stehen.
Wir haben sie bisher nicht benutzt, weil wir uns von
dem Vorurteil nicht lösen konnten, daß das
Horoskop mit dem realen Leben in einer direkten Beziehung
steht (in der Prognose z. B. zumindest sog. "Tendenzen"
erkannt werden können).
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