Kapitel 2: Die Bedeutung des Geburtsaugenblicks und einer "natürlichen Geburt"
In dem Experiment von Dr. Brown öffneten die Austern
ihre Schalen, wenn der Mond im Zenith ihrer neuen Heimatstatt
in Illinois stand. Wenn die Sonne im Zenith steht,
nennen wir das "Mittag". Das ist ein bestimmter
Abschnitt des Tages, genauer: ein bestimmter Zeitpunkt
am Tag. Die Sonne "wandert" dann weiter und
geht abends im Westen unter. Die Stellung der Sonne
zum Horizont hängt also vom Zeitpunkt ab, den
ich betrachte. Dies gilt auch für den Mond und
alle anderen Gestirne.
Da es für einen Astrologen u. a. wichtig ist, welches
Gestirn im Moment der Geburt gerade im Zenith stand,
ist er darauf angewiesen, die genaue Geburtszeit zu
kennen. Da ein Gestirn alle 4 Minuten durchschnittlich
einen Grad am Himmel weiterwandert, sollte die der
Berechnung zugrundeliegende Zeit von der wirklichen
Geburtszeit nicht um mehr als etwa 10 Minuten abweichen.
Da die Geburtszeit in Deutschland seit 1898 amtlich
festgehalten werden muß und ins Geburtsregister
eingetragen wird, stellt es für Deutsche kein
Problem dar, die eigene Geburtszeit, seit 1950 meist
sogar minutengenau, in Erfahrung zu bringen. Ähnliches
gilt für die meisten europäischen Länder
(England ausgenommen). Vorsicht ist geboten bei Geburtszeiten,
die aus der Erinnerung der Eltern stammen: Jede zweite
dieser Geburtszeiten ist fehlerhaft (weicht um bis
zu 12 Stunden von der amtlich festgehaltenen Geburtszeit
ab), selbst bei Einzelkindern.
"Ein Mensch verrät seine Natur durch seine
Vorliebe für einen bestimmten Geburtsaugenblick",
hatte ich im vorherigen Abschnitt zusammenfassend den
Grundgedanken der Astrologie beschrieben. Es ist eine
naheliegende und auch vieldiskutierte Frage, welchen
astrologischen Wert dann eine Geburtszeit hat, die,
etwa bei einer Kaiserschnitt-Geburt, willkürlich
von einem Arzt festgelegt wurde.
Wenn der Zusammenhang zwischen kosmischen Rhythmen und
biologischen Rhythmen, wie in der Arbeits-Hypothese
im vorherigen Abschnitt postuliert, auf einer Sensibilität
der Organismen für kosmische Reize beruht, dann
kann ein willkürlich festgelegter Geburtszeitpunkt
astrologisch keine Aussagekraft mehr haben: Der Geburtsaugenblick
wird nicht mehr festgelegt durch die Reaktion des Fötus
auf den "passenden" kosmischen Stimulus sondern
durch den Dienstplan des amtierenden Arztes.
Eine ähnliche Argumentation gilt auch für
Geburten, die durch Gabe von sog. Wehenmitteln medikamentös
eingeleitet wurden, was heutzutage bei sehr vielen
Geburten der Fall ist . Entgegen dem Bemühen der
Ärzte sind aber die Geburtszeitpunkte durch Wehenmittel
keineswegs präzise steuerbar. Hier spielt die
Eigendynamik der Intereaktion der beiden Organismen
von Mutter und Kind doch noch eine große Rolle.
Aus diesem Grunde sind die Geburtszeiten bei medikamentös
eingeleiteten Geburten mit Einschränkungen astrologisch
verwertbar.
Diese Argumentation wird dem kritischen Leser sicher
zunächst rätselhaft sein: Entweder ist die
Geburtszeit richtig oder sie ist falsch - entweder
ein Kind wurde mit Mond im Zenith geboren oder aber,
im Falle einer anderen Geburtszeit, mit Mars oder Venus
oder einem anderen Planeten im Zenith. Wie will ich
zwischen diesen Möglichkeiten entscheiden, wenn
die Geburtszeit "mit Einschränkungen"
verwertbar ist?
Um diese Argumentation verstehen zu können, muß
man wissen, daß die Konstellation der Gestirne
in jedem Moment eine Gestalt bildet. In Wahrheit würde
ein Astrologe nicht ein isoliert betrachtetes einzelnen
Merkmal, etwa "Mond im Zenith", deuten, sondern
viele verschiedene Faktoren, die im Gesamtzusammenhang
gesehen werden müssen. (Auch ein Arzt wird ja
bei einer medizinischen Diagnose nicht nur den Blutdruck
messen.) Und diese verschiedenen Gestalten, die die
Konstellationen der Gestirne jeden Moment immer neu
bilden, ähneln sich, in einem unregelmäßigen
Rhythmus, in kürzeren und längeren Abständen
immer wieder:
Die Konstellation der Gestirne verändert sich,
wie wir in Kapitel 3 noch genauer sehen werden, in
übereinandergelagerten Zyklen (die tägliche
Drehung der Erde um sich selbst ist die Ursache für
den Auf- und Untergang der Gestirne, die jährliche
Drehung der Erde um die Sonne die Ursache für
die Jahreszeiten usw.). Das hat zur Folge, daß
zwei Konstellationen, die um mehrere Stunden differieren,
verschiedener sein können, als zwei Konstellationen,
die genau um 24 Stunden differieren. Stellen Sie sich
z. B. eine Mittags-Konstellation an einem beliebigen
Tag vor. Welchen Tag wir auch immer wählen: Am
Mittag steht die Sonne im Zenith (das ist ja mit Mittag
gemeint). Genau 24 Stunden später steht sie wiederum
im Zenith. Bezogen auf diesen Faktor ist die Konstellation
nach genau 24 Stunden also ähnlicher als etwa
nach 2 Stunden (dies gilt für alle täglichen
Rhythmen), denn nach 2 Stunden steht die Sonne eben
nicht mehr im Zenith (wo sie nach genau 24 Stunden
aber wieder steht).
Andererseits wissen wir, daß nicht nur die Stellung
eines Gestirns im Zenith, sondern auch am Auf- oder
Untergangspunkt eine besondere Bedeutung hat (analog
dem Auf- und Untergang der Sonne): Stellen wir uns
vor, ein Fötus wäre "eigentlich"
geboren mit der Sonne im Zenith. Nun wurde aber die
Geburtszeit durch Gabe von Wehenmitteln verändert.
Etwa 6 Stunden vor diesem Zeitpunkt war bereits ein
ähnlicher kosmischer Reiz (die Sonne ging gerade
auf) und etwa 6 Stunden später wird wiederum ein
ähnlicher sein (die Sonne geht gerade unter).
Das bedeutet also, daß sich nicht nur alle 24
Stunden, sondern auch innerhalb eines Tages immer wieder
ähnliche Konstellationen bilden.
Ein Fötus, der besonders empfänglich wäre
für den kosmischen Reiz "Mond im Zenith",
wäre, abgeschwächt, auch für den Reiz
"Mond gerade aufgehend" empfänglich.
Denken Sie an das Experiment mit den Austern: Der Mond
im Zenith stimuliert sie, die Schalen zu öffnen.
Irgendwann müssen sie die Schalen auch wieder
schließen (wenn Ebbe ist, nämlich). Und
das geschieht, wenn der Mond gerade auf- oder untergeht.
Wenn wir einer Geburt ihren natürlichen Lauf lassen,
dann lassen wir einem kosmischen Stimulus den größtmöglichen
Rahmen, wirksam zu werden. Die zu diesem Stimulus gehörende
Gestirnstellung charakterisiert dann die Veranlagung
des entsprechenden Organismus am besten. Wenn wir auf
den Ablauf der Geburt Einfluß nehmen, verhindern
wir möglicherweise, daß die Geburt zum "passendsten"
Zeitpunkt stattfinden kann.
Solange der betreffende Fötus aber durch sein
Verhalten auf den Geburtszeitpunkt noch Einfluß
nehmen kann, solange also dem kosmischen Stimulus noch
Raum für Wirkungsmöglichkeit gelassen wird,
sagt die entsprechende Konstellation auch noch etwas
über seine Veranlagung aus. Dies ist bei einer
medikamentös eingeleiteten Geburt der Fall, weil
die Medikamente sozusagen mit den kosmischen Auslöse-Reizen
in Konkurrenz treten.
Diese Argumentation ist nur sinnvoll, wenn ich von der
Arbeits-Hypothese ausgehe, die im vorherigen Abschnitt
aufgestellt wurde: Astrologie basiert auf einer Sensibilität
der Organismen für kosmische Reize. Viele Astrologen
sind aber nicht der Meinung, daß der Zusammenhang
zwischen Kosmos und Organismus auf einer Sensibilität
eines Organismus für kosmische Reize beruht. Esoterisch
orientierte Astrologen gehen von einer "Vorherbestimmung"
aus und sind davon überzeugt, daß ein Kind
immer dann geboren wird, wenn die Konstellation passend
ist: "Scheinbare" Zufälle wie ein Unfall
(der vielleicht zu einer Sturzgeburt führt) oder
die "vermeintlich" willkürliche Festlegung
des Geburtszeitpunkts bei einem operativen Eingriff,
sind ihrer Meinung nach dem Lebewesen, das sich inkarnieren
will, bewußt, weil dieses Wesen die Umstände
seiner Geburt in seiner vorgeburtlichen Existenz selbst
gewählt hat.
Ich will diese Argumentation an dieser Stelle nicht
kritisieren oder gar abwerten. Mir ist es allerdings
ein besonderes Anliegen, deutlich zu machen, daß
man Astrologie betreiben kann, ohne bestimmte (im engeren
Sinne) religiöse Vorgaben akzeptieren zu müssen,
also ohne "glauben" zu müssen . Die
von mir vorgeschlagene Arbeitshypothese erlaubt es,
Astrologie in den Kontext unseres bisherigen Verständnisses
von der Natur zu integrieren, Astrologie also als ein
natürliches Phänomen zu verstehen, das sich
nicht grundsätzlich von anderen Zusammenhängen
in der Natur unterscheidet.
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