Kapitel 7: Einleitung
Als Demokrit im 4. vorchristlichen Jahrhundert die
Behauptung aufstellte, alle Materie bestehe aus kleinsten
unteilbaren Bestandteilen, den Atomen, widersprach
ihm Aristoteles: Wenn Demokrit im Recht sei, so sein
Argument, dann sei Materie vergleichbar einer Sandburg
am Strand, die aus einzelnen Sandkörnern besteht.
Jedermann kann aber sehen, was mit dem Herannahen der
Flut geschieht: Die Sandburg zerfällt in ihre
Bestandteile, die Sandkörner.
Wir wissen heute, daß Demokrit dennoch im Recht
war. Die unmittelbare Anschauung, auf die Aristoteles
sich berief, führte in die Irre.
Als Galilei im 17. Jahrhundert behauptete, die Erde
kreise um die Sonne und stehe nicht etwa fest ("
... und sie bewegt sich doch!"), hielten ihm Gelehrte
entgegen, daß dann ein Gegenstand, den man von
einem hohen Turm fallen ließe, nicht am Fuße
des Turmes ankommen dürfe, sondern, wie aus einem
fahrenden Wagen geworfen, sich im Fluge vom Turm entfernen
müßte. Die Experimente sprachen jedoch dagegen.
Wir wissen heute, daß Galilei dennoch im Recht
war. Die unmittelbare Anschauung, auf die diese Gelehrte
sich beriefen, führte auch hier in die Irre.
Vor einigen Jahren starb in Süd-England ein weibliches
Medium, das sich mit Magie beschäftige, an Wundstarrkrampf.
Die Frau war in einen rostigen Nagel getreten und hatte,
statt sich eine Spritze gegen Wundstarrkrampf geben
zu lassen, ein magisches Ritual vollzogen, das in diesem
Fall darin bestand, den Nagel, den Verursacher der
Wunde, zu pflegen (ihn also mit Öl einzureiben,
zu putzen usw.). Die magische Vorstellung besagt, daß
dann auch die Wunde heilt. Das war ein Irrtum.
Es ist eine grundlegende menschliche Erfahrung, daß
wir uns täuschen können. Wir sehen etwas,
das nicht existiert, weil wir beim Sehen auch immer
etwas in die Welt "hineinsehen" (z. B. "Gestalten"),
wir übersehen etwas, das doch da ist, weil wir
es da nicht erwarten. Wir schließen oder folgern,
aber wir irren uns, weil wir Parameter nicht berücksichtigt
haben, die Gesetze nicht genügend kennen oder
weil unsere Ableitungsregeln falsch sind oder fehlerhaft
benutzt wurden. Wir deuten, doch unsere Interpretation
(eines Gesichtsausdrucks vielleicht) erweist sich als
falsch usw.
Wenn wir uns täuschen, so können wir in vielen
Fällen die Täuschung direkt erkennen: Wir
erreichen erstrebte Ziele nicht, erwünschte Effekte
bleiben aus. Es gibt jedoch sehr viele Fälle,
in denen wir nicht auf diese Weise korrigiert werden
(können), z. B. wenn die von uns bewirkten Effekte
vieldeutig sind, wenn Tatsachen unterschiedlich interpretiert
werden können. In der Rechtsprechung ist die
Folge ein "Justiz-Irrtum" (besonders bei
sog. Indizien-Beweisen), in den Wissenschaften allgemein
ein (partiell) falsches Weltbild, im Alltag spricht
man von "Aberglauben". Die menschliche Geschichte
ist voll solcher Irrtümer, und in fast allen Fällen
handeln (handelten) die betroffenen Menschen mit einem
Gefühl großer subjektiver Sicherheit.
Angesichts der Tatsache, daß in unzähligen
Beratungssituationen Klient und astrologischer Berater
immer wieder den Eindruck haben, daß die Deutung
des Horoskops stimmig und zudem hilfreich ist , stellen
sich Astrologen immer wieder die Frage, aus welchen
Gründen eine weitere "Prüfung"
der Astrologie notwendig erscheint. Anders ausgedrückt:
Gibt es im Falle der Astrologie, außer ideologischen
Gründen ("Astrologie kann nicht richtig sein!"),
plausible Gründe, an der Validität der Evidenz-Erlebnisse
von Klient und Berater zu zweifeln? - Die Berechtigung
eines solchen Zweifels soll an einem Beispiel aus meiner
Praxis verdeutlich werden:
Vor einigen Jahren kam eine Dame zu mir zu einer astrologischen
Beratung. Sie hatte sich telefonisch angemeldet und
mir dabei auch ihre Geburtsdaten angegeben. Nach unserem
zweistündigen Gespräch erzählte sie
mir, daß sie vor mir schon bei 5 Kollegen gewesen
sei, meine Deutung sei allerdings die differenzierteste
und die beste. Sie zeigte mir zum Vergleich dann die
Arbeiten meiner Kollegen. Bei der Gelegenheit bemerkte
ich, daß die Horoskope meiner Kollegen ganz
andere Konstellationen aufwiesen als mein Bild. Ich
stellte fest, daß ich mich bei dem Geburtsdatum
um 20 Jahre geirrt hatte: Ich hatte statt einer 3 aus
meiner handschriftlichen Notiz ihrer Geburtsdaten eine
5 gelesen, so daß ihr Geburtsdatum statt in die
dreißiger Jahre in die fünfziger Jahre fiel.
Ähnliche Erlebnisse, daß Deutungen irrtümlich
falsch berechneter Horoskope als "evident"
empfunden werden, berichten auch andere Kollegen (DEAN/MATHER
1977, 19).
Welche Möglichkeiten bestehen also in der Astrologie,
Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden?
Astrologie ist die symbolische Deutung räumlicher
Verhältnisse und zeitlicher Abläufe in unserem
Sonnensystem. Sie basiert auf der Grundannahme, daß
die sich aus solchen Verhältnissen ergebenden
Rhythmen mit physikalischen, biologischen und psychischen
Abläufen in Organismen auf der Erde in Zusammenhang
stehen (siehe Kapitel 2). Astrologie zu prüfen
bedeutet, die Angemessenheit ihrer Grundannahme zu
prüfen und die Angemessenheit der Deutungen zu
prüfen.
Die einzelnen Richtungen in der Astrologie unterscheiden
sich hinsichtlich zweier Dimensionen, die relativ unabhängig
voneinander sind: zum einen hinsichtlich der verwendeten
Deutungselemente , darüberhinaus aber auch hinsichtlich
ihrer Auffassungen darüber, von welcher Natur
der in Rede stehende Zusammenhang sei. Da die Beantwortung
dieser Frage für die Realisierung einer angemessenen
Prüfung astrologischer Aussagen von Bedeutung
ist, sollen die wesentlichen Auffassungen kurz referiert
und diskutiert werden.
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