Kapitel 4: Beispiel 1: Venus
Venus: Das Prinzip "Harmonie"
Leben ist mit absoluten Extremen nicht vereinbar. Das
Chaos der Bewegungen der Atome oder Moleküle in
einem Gas ist mit Leben ebenso wenig vereinbar wie
die starre Ordnung in der Anordnung der Atome oder
Moleküle in einem Kristall (Mineral). In unserem
Körper muß die Konzentration des Kochsalzes
in den Körperflüssigkeiten auf 0,09 % gehalten
werden, sonst sterben wir. Die Körpertemperatur
muß beinahe auf ein Grad genau konstant gehalten
werden. Eine Erhöhung um etwa 5 Grad bedeutet
den Tod. Der Blutzuckerspiegel, der Sauerstoffgehalt
im Blut, die Konzentration der verschiedenen Hormone,
Vitamine und Mineralien - all diese Stoffe dürfen
in unserem Körper nur sehr wohlbemessen vorhanden
sein, ihm nur sehr wohldosiert zugeführt werden.
Im körperlichen Bereich nennt man den Zustand eines
solchen Gleichgewichts (z. B. der Konzentration eines
Stoffes im Körper) Homoöstase. Die homöostatischen
Regulationsprozesse sind die körperliche Entsprechung
des venusischen Prinzips.
Das Prinzip dieser Regulationsprozesse ist, vereinfacht,
der Regelung der Raumtemperatur bei einer Heizung vergleichbar:
fällt die Raumtemperatur unter einen bestimmten
Wert ab, wird die Heizung automatisch eingeschaltet.
Meldet der Temperaturfühler, daß die von
Benutzer vorher eingestellte Temperatur erreicht ist,
schaltet die Heizung wieder ab. Nun kühlt der
Raum langsam wieder ab, weil er nach draußen
Wärme verliert, und wenn die Temperatur dabei
unter einen (wiederum einstellbaren Wert) fällt,
dann wird die Heizung wieder eingeschaltet.
Die Raumtemperatur schwankt also, je nach Leistungsfähigkeit
der verwendeten Komponenten mehr oder weniger stark,
um einen "Soll-Wert", den man einstellen
kann.
Ein ähnlicher Ablauf liegt in unserem Körper
beim Blutzuckerspiegel vor. Wir verbrauchen ständig
Energie (zum Beispiel zur Aufrechterhaltung unserer
Körperwärme) und verbrennen daher in unserem
Körper Zucker. Dadurch sinkt der Blutzuckerspiegel.
Wenn die Fühler in unserem Körper registrieren,
daß der Blutzuckerspiegel unter einen bestimmten
Wert gesunken ist, und dies an unser Gehirn senden,
dann entspricht dies in unserem Erleben dem Gefühl
von Hunger. Wir nehmen Nahrung zu uns und der Blutzuckerspiegel
steigt wieder an. Bei Erreichen des Soll-Wertes sprechen
wir von Sättigung.
Wir begegnen in diesem Beispiel wieder dem Hunger, den
wir auch schon als Entsprechung zu Mond kennengelernt
haben. Der Prozeß der Nahrungsaufnahme ist sehr
komplex, und es sind unterschiedliche Prinzipien daran
beteiligt. Etwas vereinfacht ausgedrückt rührt
der "mondhafte Hunger" von einem leeren Magen,
der venusische Hunger von einem Mangel an einem bestimmten
Stoff (in diesem Beispiel: Zucker). Aber wie sichert
der Organismus, daß wir, wenn wir Hunger haben,
nicht einfach irgendetwas essen, sondern das, was uns
fehlt?
Wie wir alle wissen, hat Essen zwei Facetten: Den Hunger
stillen tut gut. Wir sind dann satt. Aber Essen kann
auch Spaß machen. Es ist ein ganz anderes Erlebnis,
den Magen zu füllen, als eine Speise zu essen,
auf die ich gerade "Heißhunger" habe.
Da kommt eine Lust ins Spiel, die über das Wohlbefinden
des Gesättigt-Seins hinausgeht.
Über die Dimension "Geschmack", "Vorliebe"
und, ganz allgemein, Lust sind wir also in der Lage,
sehr speziell auszuwählen. Lust ist das "Instrument"
des Venus-Prinzips. Die Lust-Unlust-Dimension ist ein
sehr feines Werkzeug: kleinste Unterschiede (etwa beim
Würzen von Speisen) wirken sich auf die Lust,
die wir empfinden, aus. In diesem Bereich, bei der
Frage: "Wie wohl fühle ich mich?" oder:
"Wie wohl tut mir das?", sind fast alle Menschen
zu äußerst feinen Abstufungen in der Lage.
Das ist auch notwendig: Beim Venus-Prinzip geht es
um feinste Abstufungen (nicht nur in der Konzentration
irgendwelcher Chemikalien in unserem Körper).
Wenn wir von Wohlbefinden sprechen, dann meinen wir
damit eine Dimension unseres Erlebens, bei der es nicht
um Leben oder Tod geht. Wir können auch in einem
Zustand extremen Unwohl-Seins sehr alt werden. Beim
Wohlbefinden geht es also um feinere Unterscheidungen
als die einfache Frage, ob ein Zustand mit dem Leben
vereinbar ist. Die venusische Funktion bringt die Frage
nach der Lebensqualität ins Spiel.
Ein wesentlicher Aspekt unseres psychischen Wohlbefindens
wird von Psychologen als das "optimale Erregungs-Niveau"
bezeichnet. Wenn das Ausmaß unserer psychischen
Erregung (Angeregtheit) unterhalb dieses optimalen
Erregungs-Niveaus liegt, sprechen wir von Langeweile,
wenn es weit oberhalb dieses Niveaus liegt, sprechen
wir von Stress (durch Reizüberflutung). Wenn wir
Langeweile haben, suchen wir Anregung. Diese Anregung
suchen Menschen außen (z. B. durch Kontaktaufnahme
oder eine bestimmte Beschäftigung) als auch innen
(durch bestimmte Gedanken, Träume, Erinnerungen
usw.).
Das Venus-Prinzip sucht also nicht einen Gleichgewichts-Zustand
im Sinne der Ruhe. Das Venusische ist die Kraft, die
uns auf den Soll-Wert zurückführt: bei Über-Erregung
durch Beruhigung, bei Langeweile durch Suche nach Anregung.
Die Bewegung auf den "Idealwert" hin wird
im körperlichen wie im psychischen Bereich als
lustvoll erlebt.
Lust ist die mächtigste Antriebskraft, die im Organismus
wirksam ist, stärker als der Selbsterhaltungs-Trieb:
Als man vor einigen Jahrzehnten im Gehirn ein Areal
entdeckte, dessen Reizung durch Mikro-Elektroden offensichtlich
für die betreffenden Tiere (und später auch
Menschen, die an entsprechenden Experimenten teilnahmen)
ungewöhnlich angenehme Empfindungen auslöste,
nannte man diese Areal das Lustzentrum. Organismen
haben offensichtlich das angeborene Bedürfnis,
alles zu tun, um möglichst oft eine Stimulierung
dieses Gehirn-Areals zu erreichen. Wenn im Organismus
eine Handlung mit einer Stimulierung dieses Areals
verbunden ist, dann wird diese Handlung so oft als
möglich ausgeführt. Folgendes Experiment
belegt dies:
Ratten wurden zunächst dressiert, sich auf Knopfdruck
hin Futter beschaffen zu können. Sie bedienten
diesen Knopf so lange, bis sie satt waren, und dann
erst wieder, wenn sie hungrig waren. Nun wurde diesen
Ratten eine Elektrode implantiert, die auf Knopfdruck
hin das Lustzentrum reizte. Den Ratten wurde die Möglichkeit
gegeben, sich selbst durch Knopfdurck diesen Reiz zu
verabreichen. Die Ratten drückten diesen Knopf
bis zu 60 Mal in der Minute, ununterbrochen, so lange,
bis sie vor Erschöpfung starben. Sie hatten kein
Bedürfnis mehr zu trinken oder zu essen oder nach
sexueller Betätigung.
Das Lustzentrum ist das Organ der Venus. Es ist das
Organ, daß uns für den Unterschied zwischen
dem uns Zuträglichen ("Schmeckt gut!")
und dem uns Abträglichen ("Schmeckt ja scheußlich!")
sensibilisiert. Und auch dieses Prinzip muß mit
den anderen Prinzipien im Gleichgewicht sein: Es gibt
Situationen, da ist es wichtig, kurzfristig oder auch
längerfristig etwas in kauf zu nehmen, daß
uns eigentlich abträglich ist: z. B. eine scheußlich
schmeckende Medizin zu schlucken, deren scheußlicher
Geschmack eigentlich ein Hinweis darauf ist, daß
die Substanz eigentlich ungenießbar ist. Es gibt
auch Situationen, in denen ich etwas für mein
Leben Gefährliches durch etwas anderes, ebenfalls
Gefährliches, abwenden muß. (Das Aufschneiden
des Bauches, wie es vielleicht bei einer Operation
notwendig ist, ist etwas eigentlich sehr Abträgliches.)
Und schließlich besteht die Gefahr der "Verwöhnung":
Die Schwächung oder gar Zerstörung der Wirksamkeit
dieses wertvollen Instruments. Ich will dies ebenfalls
an einem Tierexperiment veranschaulichen:
Wenn man durch einen operativen Eingriff bei einem Tier
die Regulierung des Salzhaushaltes zerstört, so
daß das Tier in eine Salznot gerät, dann
trinkt dieses Tier, wenn man ihm ungesalzenes und gesalzenes
Wasser anbietet, instinktiv von dem gesalzenen Wasser.
"Verwöhnt" man ein Tier vor diesem Experiment
allerdings zunächst durch Gabe von gezuckertem
Wasser und bietet dem Tier in dem Experiment dann als
Alternative Zuckerwasser und Salzwasser an, dann trinkt
das Tier von dem Zuckerwasser - ggf. bis es buchstäblich
platzt.
Der Lebensbereich, der sehr weitgehend durch das Lustzentrum
reguliert wird, ist der Bereich von Erotik und Sexualität.
Ich möchte zur Verdeutlichung des Prinzips einmal
eine etwas provozierende Frage stellen: Würden
Menschen (und die Tiere) sich überhaupt fortpflanzen,
wenn die Sexualität nicht durch ungeheuer intensive
Lustgefühle "belohnt" würde? Der
Beischlaf ist körperlich sehr anstrengend, er
ist in einem gewissen Sinn "Schwerstarbeit",
und in manchen Situationen (z. B. im Falle sog. "ehelicher
Pflichten") wird er ja auch als solches empfunden.
Welche Motivation könnten wir haben, ihn überhaupt
zu vollziehen? Er verschafft uns keinerlei Vorteile:
Er erhöht nicht unsere Sicherheit, vermehrt nicht
unsere materiellen Ressourcen. - Wenn jemand einen
Verliebten fragen würde: "Wozu ist das gut?
Warum tust Du das?", würde der ihm wahrscheinlich
antworten: "Das ist mir gleich. Es ist so schön!"
Menschen, in deren Horoskop die Venus eine untergeordnete
Rolle spielt, könnten auf eine solche Begründung
ohne weiteres erwidern: "Was soll das heißen:
'Es ist schön'? Das ist noch kein Grund, es zu
tun." Und der venus-betonte Mensch würde
verständnislos fragen: "Was könnte denn
sonst ein Grund sein, etwas zu tun?"
Über Erotik und Sexualität hinaus repräsentiert
die Venus das Bedürfnis der Lebewesen nach Gemeinschaft
oder, in anderen Worten: solche Wünsche, die anderer
Menschen (Lebewesen) bedürfen, um erfüllt
werden zu können (Erotik und Sexualität sind
ja nur ein Beispiel dafür). Das Bedürfnis
nach Gemeinschaft ist bei den einzelnen Arten zwar
sehr unterschiedlich ausgeprägt, aber vorhanden
ist dieses Bedürfnis immer (sonst gäbe es
keine Fortpflanzung), und Venus verkörpert es,
wie unterschiedlich es bei den verschiedenen Arten
auch ausgeprägt sein mag.
Der Mensch ist ein geselliges Wesen: Kinder spielen
gern mit anderen Kindern, Erwachsene haben sich eine
Vielfalt von Anlässen für Geselligkeit geschaffen.
Geht es bei Merkur mehr um einen pragmatischen Aspekt
(Informationsaustausch und die Möglichkeit, von
anderen zu lernen, etwas von ihnen zu erfahren), so
geht es bei Venus mehr um den Aspekt des Austauschs
von "Streicheleinheiten" (buchstäblich
oder im übertragenen Sinn): freundliche Gesten
des Entgegenkommens oder der Sympathie.
Unmittelbar lebensnotwendig scheinen all diese Aktivitäten
nicht zu sein: Wir können z. B. auch in der Einsamkeit
überleben. Es geht mit Venus, wie gesagt, um die
Dimension der "Lebensqualität", und
so verwundert es nicht, daß viele Werke der Weltliteratur
(und fast alle Produkte der sog. Kulturindustrie) sich
ausschließlich um venusische Themen drehen.
Wenn man versucht, aus systemtheoretischer Sicht zu
verstehen, in welchem Sinn die Lust eine Lebensgrundfunktion
darstellt, eine Grundnotwendigkeit für die Existenz
von Leben, dann wird einem deutlich, daß Lust,
neben der Fähigkeit, das uns Zuträgliche
von dem uns Abträglichen zu unterscheiden (Geschmack
im weitesten Sinne des Wortes), wie ein Joker im Spiel
der Kräfte im Leben wirkt. Sie ist eine Karte,
die immer sticht. Welche Handlung auch immer mit einer
Stimulierung des Lustzentrums verknüpft werden
kann: Die Wahrscheinlichkeit, daß das Lebewesen
diese Handlung ausführt, wird beträchtlich
erhöht. Dieses Wissen benutzen wir in der Erziehung
(der Kinder), wenn wir erwünschte Verhaltensweisen
"belohnen" (durch Dinge oder Handlungen,
die als "lustvoll" erlebt werden).
Für Menschen mit einer Venus-Betonung in ihrem
Horoskop liegt der Akzent ihrer Motivation auf der
Herstellung von innerer und äußerer Harmonie
(im psychischen heißt das konkret: Aufrechterhaltung
des optimalen Erregungs-Niveaus). Stärker als
bei anderen Menschen wird ihr Leben vom Lustprinzip
regiert. Sie verteilen gern "Streicheleinheiten"
und sind sehr angewiesen darauf, solche zu erhalten.
Sie sind, das folgt daraus, meist freundliche Menschen,
die Geselligkeit lieben. Die ästhetische Dimension
spielt eine große Rolle, sei es bei der Wahl
einer Partnerin/eines Partners, bei der Kleidung, bei
der Einrichtung ihrer Wohnung, sei es zur Charakterisierung
ihrer Art des Denkens. Zum Vergleich: Bei merkur-betonten
Menschen wird die Wahl von Partnern, von Kleidung oder
Wohnungseinrichtungen oft stärker nach pragmatischen
Gesichtspunkten getroffen.
Venusbetonte Menschen sind leicht (und gern) verführbar
und verwöhnbar. Bei einer Überbetonung des
Prinzips besteht die Gefahr, daß diese Menschen
allem Unangenehmen ausweichen, z. B. auch notwendigen
Auseinandersetzungen. In ihrer Abhängigkeit von
Sympathie kehren sie, wie man so sagt, Konflikte unter
den Teppich, und es fällt ihnen schwer, Position
zu beziehen. Das kann, im Extrem, bis zur Selbstverleugnung
gehen.
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